2014/12/23

Heim als Horrorvorstellung - Lieber Straße als Jugendamt: Warum die ärmsten Kinder Deutschlands Behörden fürchten

Sonntag, 14.12.2014, 11:05
Karuna, Jugendamt, Straßenkinder
Karuna In Deutschland leben circa 20.000 Jugendliche auf der Straße
Bundesweit sind etwa 20.000 junge Menschen unter 21 Jahren obdachlos. Die meisten von ihnen haben in ihren Familien Gewalt und Missbrauch erlebt. Wie kann das sein in einem reichen Land wie Deutschland? Und warum vertrauen viele Kinder den Jugendämtern nicht?
Christian ist gerade einmal zehn Jahre alt, als er Zuhause rausgeworfen wird. Seine Mutter hatte sich bereits vier Monate nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht. Dann will ihn auch der Vater nicht mehr haben. „Er hatte damals eher Interesse an seiner neuen Freundin als an mir“, erinnert sich der heute 23-Jährige im Gespräch mit FOCUS Online. „Ich war ihm zu anstrengend, also musste ich gehen.“

Karuna, Jugendamt, Straßenkinder
Maximilian Koch Christian wurde im Alter von zehn Jahren ins Heim gesteckt
Christian wird von einem Heim ins nächste gesteckt. Er ist „zu faul für die Schule“, wie er selbst zugibt. Und zu ungeduldig, um bis zur Volljährigkeit in der staatlichen Einrichtung zu verharren, die irgendwo im Niemandsland von Mecklenburg-Vorpommern liegt, fernab von seiner vertrauten Umgebung, von seinen Freunden.


"Im Moment schlafe ich im Zelt"

 

„Mit 16 bin ich dann abgehauen“, erzählt er. Über Rostock kommt er nach Berlin, wo er bis heute lebt. Auf der Straße. „Im Moment schlafe ich im Zelt“, sagt er. Dann nimmt er im Kellerraum der Hilfe-Einrichtung „Drugstop“ noch einen Schluck von seinem Milchkaffee. Christian hat sich mit seiner Situation arrangiert. So gut das eben geht.


So erleben Jugendliche ihre Zeit auf der Straße

 

 

Karuna e.V. Tamara: "Mein Hund Kiki ist treuer als jeder Mensch"
 Diese Geschichte passiert so oder so ähnlich tausendfach in Deutschland. Der Verein Karuna e.V., der sich für obdachlose und drogensüchtige Jugendliche einsetzt und erst kürzlich den 1. Bundeskongress der Straßenkinder in Berlin initiierte, geht davon aus, dass in Deutschland 20.000 junge Menschen unter 21 Jahren auf der Straße leben. „Und das ist nur ein Mindestwert“, sagt Geschäftsführer Jörg Richert im Gespräch mit FOCUS Online.


Karuna betreut mit Weitsicht

 

Richerts Verein versucht mit diversen Projekten und Hilfeeinrichtungen, die Situation dieser in Not geratenen Jugendlichen zu verbessern. Dazu zählen stationäre Behandlungen von drogenabhängigen Klienten genauso wie ein Jugendwohnprojekt oder eben die tägliche Betreuung für obdachlose Jugendliche mit Suchtproblemen in der Anlaufstelle Drugstop im Berliner Bezirk Lichtenberg. Finanziert wird Karuna durch Spenden, Schirmherrin ist die Schauspielerin Hannelore Elstner.

Karuna, Jugendamt, Straßenkinder
Babette Brühl Karuna-Geschäftsführer Jörg Richert (l.)
„Die Jugendlichen bekommen Essen und Trinken, hier gibt es ein Modelabel und ein Tonstudio, Möglichkeiten also, den Tag sinnvoll zu verbringen.“ Das schätzt auch Christian an Karuna. Im „Drugstop“ werkelt er gerade an neuen Mustern für die Modekollektion von „Sophisticated People“, die hier in den Karuna-Räumen produziert und dann später verkauft wird. „Wenn du viele Enttäuschungen erlebt hast, ist es schwierig, anderen Menschen zu vertrauen. Auch dann, wenn sie dir helfen wollen“, sagt Christian. „Aber hier bei Karuna hatte ich gleich ein gutes Gefühl, deshalb komme ich immer wieder.“


"Jugendliche steuern die Hilfe"

 

Nicht nur Christian vermittelt den Eindruck, dass er sich im Drugstop wohlfühlt. Es herrscht eine gemütliche Atmosphäre, die eher an eine Klassenfahrt erinnert als an ein Therapiezentrum.
Karuna, Jugendamt, Straßenkinder
Maximilian Koch Jugendliche entwerfen Kleidung für das Modelabel „Sophisticated People“
Auf dem großen Essenstisch stehen noch die Teller und Müslischalen vom Frühstück herum, am anderen Ende des Raumes tackern die Nähmaschinen. Bald schon wird es Nachschub geben für das Café Pavillon am Boxhagener Platz, wo die Kleidungsstücke zum Verkauf angeboten werden. Das Karuna-Projekt scheint zu funktionieren.
 
 
Karuna, Jugendamt, Straßenkinder
Karuna "Der Schlüssel ist Beziehungsarbeit": Karuna hat mit dieser Strategie Erfolg
„Bei uns entscheiden die Kinder und Jugendlichen über Tempo und Richtung der Hilfe. So schaffen wir Vertrauen“, erklärt Richert. „Und an der Seite der Kinder helfen unsere Sozialarbeiter mit, damit der Weg in ein normales Leben gelingt. Der Schlüssel ist Beziehungsarbeit.“


Nicht jedem gefällt der Karuna-Ansatz

 

Diese Art der Hilfe findet jedoch nicht überall Zuspruch. Von „Sozialromantik“ spricht gar Markus Seidel. Der Buch-Autor und Vorsitzende von „Offroad-Kids“, einer überregional tätigen Hilfsorganisation für Jugendliche, kritisiert die Karuna-Philosophie scharf: „Gerade kostenlose Lebensmittel- und Versorgungsangebote für minderjährige Ausreißer machen das Straßenleben gefährlich bequem und senken aus unserer Erfahrung den Willen, nach einer sinnvollen Lebensperspektive zu suchen. Wir haben sehr gute Erfolge damit, nur zu beraten und keine Suppenküche zu unterhalten.“
 
Richert widerspricht entschieden: „Herr Seidel erzählt diese Geschichte seit 25 Jahren. Doch man darf nicht vergessen, dass 65 Prozent der Kinder und Jugendlichen Traumata in ihren Herkunftsfamilien erlebt haben, also Gewalt und Missbrauch. Es ist deshalb absolut notwendig, umfassende Hilfe anzubieten.“

http://www.focus.de/politik/deutschland/heim-als-horrorvorstellung-lieber-strasse-als-jugendamt-warum-deutschlands-aermste-kinder-die-behoerden-fuerchten_id_4253661.html 

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