2013/02/16

Retropersektive: Kinderarmut in Deutschland

 Retropersektive: Kinderarmut in Deutschland

 

Finanzielle und soziale Probleme hindern die Entwicklung vieler Kinder

Retropersektive: Kinderarmut in Deutschland

Sie sind übergewichtig und der Schrank ist voller Spielzeug – Kinderarmut hat in Deutschland ein neues Gesicht bekommen. Kinder aus armen Haushalten kommen oft aus diesem Teufelskreis auch im Erwachsenenalter nicht heraus. (Foto: ap)

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Denkt man an Kinderarmut, schießen einem zunächst Bilder durch den Kopf, wie man sie häufig in den Nachrichten zu sehen bekommt: abgemagerte, verhungernde Kinder, die vor einer windschiefen Blechhütte auf dem nackten Lehmboden sitzen. Diese so genannte absolute Armut ist für uns oft „weit weg“, da sie vor allem in Entwicklungsländern herrscht. Die relative Armut in den Industrienationen, in Deutschland, in unserer Nachbarschaft äußert sich hier in anderer Form, ist aber deswegen nicht weniger dramatisch und existentiell.

Das Problem der zunehmenden Kinderarmut in unserer reichen Gesellschaft war lange Zeit noch weitgehend ein Tabuthema. Mittlerweile beschäftigt sich die Öffentlichkeit gezwungenermaßen häufiger damit. Laut dem UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder lebt in Deutschland jedes 10. Kind in Armut.

Leah (8) ist eines von ihnen. Sie lebt mit ihren drei jüngeren Geschwistern und ihrer Mutter in einer Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses. Ihre Mutter erwartet ihr fünftes Kind, der Vater hat die Familie verlassen. Seit der Geburt des jüngsten Kindes vor zwei Jahren arbeitet Leahs Mutter nicht mehr. Vorher hat sie Tupperpartys organisiert. Aber dann zog der Vater aus und sie hatte vier Kinder alleine zu versorgen. Und jetzt kommt schon bald das fünfte. „Auf jeden Fall irgendwann im Oktober“, erklärt Leah und wirkt dabei fast ein bisschen zu erwachsen. Leah kümmert sich als die Älteste um ihre kleineren Geschwister. Sie erzählt stolz davon, aber ab und zu seufzt sie tief und die viel zu große Verantwortung scheint ihr doch bewusst zu werden: „Das ist halt Stress für mich, weil ich hab ja auch noch Schule, Hobbies, Freunde.“

35 bis 40 Prozent der Kinder in Ein-Eltern-Familien leben in relativer Armut

Mit dieser Problematik passt Leah ins Bild: das Armutsrisiko liegt bei Alleinerziehenden-Haushalten mit mehreren Kindern besonders hoch. Laut UNICEF leben 35 bis 40 Prozent der Kinder in Ein-Eltern-Familien in relativer Armut. Der oder die Alleinerziehende kann nicht arbeiten, weil die Kinder nirgendwo untergebracht werden können, und ist dementsprechend auf Unterstützung vom Staat angewiesen. Mit der schwierigen Situation sind viele Alleinerziehende überfordert, sie werden unzufrieden und schließlich frustriert. Die Perspektivlosigkeit der Eltern bekommen wiederum die Kinder zu spüren: Sie leiden nicht nur unter dem materiellen Mangel, sondern es fehlt ihnen auch an emotionaler Unterstützung und dem Rückhalt in der Familie.

So wie Leah, die viel zu vernünftig über ihr Leben und ihre Sicht der Dinge spricht und für ihre acht Jahre eine riesengroße Last auf ihren Schultern trägt: „Das Beste ist, finde ich, dass ich so viele Geschwister habe. Weil ich muss halt auch öfters auf die aufpassen. Meine Mutter vertraut mir richtig und ich finde das toll. Auf meine Mutter würde ich auch aufpassen, aber die ist ja viel größer als ich. Ich bin eigentlich die Größte, aber wir hatten zwei Fehlgeburten bevor ich da war. Das ist ganz doof.“

Auch über die finanzielle Situation ihrer Familie macht Leah sich Sorgen: „Ich brauch halt auch öfter schon so Schulmaterialien. Und dann sagt Mama immer ‚Wir haben kaum Geld‘.“

In Hartz-IV-Familien ist pro Kind im Monat eine Summe von 208 Euro vorgesehen. Davon sind 1,76 Euro für Schulsachen und 0,86 Cent für Spielzeug angesetzt. Immerhin, an Spielzeug mangelt es Leah nicht, wie sie erzählt: „Wir haben ganz viel Spielzeug, so viel, dass ich mich nie entscheiden kann. Ein ganzes Regal voll. Einiges ist sogar sehr alt. Aber mein Lieblingsspiel ist der Gameboy. Ich hätte nur gerne auch ein Nintendo DS.“ Den bekommt sie zum Geburtstag. Vielleicht.

Bis dahin zeichnet sie an ihrem Lieblingsplatz am Fenster in ihrem Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester teilt, die aber leider „auch immer richtig nervt.“

In den Sommerferien nimmt Leah ohne ihre Geschwister am Ferienprogramm eines Jugendzentrums teil. Hier kann sie mit anderen Kindern spielen und bekommt Frühstück, Mittagessen und am Nachmittag sogar Kekse und Kuchen. Das dreiwöchige Programm kostet pro Kind 70 Euro „all inclusive“, ist aber trotzdem für viele Familien unerschwinglich, wie die Sozialpädagogin vor Ort weiß. Leah macht das Angebot Spaß, auch wenn ihr die anderen Kinder manchmal viel zu laut sind. Aber noch lieber würde sie mal in den Urlaub fahren, am allerliebsten zu ihren Urgroßeltern nach Polen, „die haben nämlich auch eine ganz tolle Terrasse. Und die hatten auch einen tollen Hund. Aber der ist leider gestorben.“ Leah war seit drei Jahren nicht mehr dort.

Zum Glück hat sie auch in Deutschland eine Oma und eine Tante, die ihre Familie unterstützen und auch einmal Dinge ermöglichen, die sonst nie drin wären. Leah hat von ihnen zum Beispiel ein Einrad bekommen, das sie „richtig toll“ findet.

„Ich würde ja meiner Mutter meine Ersparnisse geben, aber sie will nicht, dass ich ihr etwas leihe“

Trotzdem wird es oft eng, gerade wenn Leahs Mutter versucht, sich und ihren Kindern auch einmal was außer der Reihe zu gönnen, wie eine „normale“ Familie ohne finanzielle Probleme zu sein. „Meine Mutter hat ja kein Geld. Voll wenig hat die. Und ab und zu sind wir sogar pleite. Das letzte Mal, wo wir pleite waren, das war, wo wir ins Phantasialand gefahren sind. Da mussten wir 122 Euro ausgeben. Und das war schon sehr viel. Dann sind wir zurückgefahren und konnten kaum Essen kaufen eine Woche.“ Gerade in solchen Momenten möchte Leah ihre Mutter so gerne unterstützen. Ihr Taschengeld – einen Euro pro Woche – hat sie gespart, „aber meine Mutter möchte nicht, dass ich ihr Geld leihe. Aber wär' eigentlich gut, als Hilfe. Ich hab nämlich 252 Euro.“

Traurig und betroffen macht es, dass ein Mädchen in ihrem Alter sich schon so viele Gedanken über Geld machen muss. Dass ihr sehr wohl bewusst zu sein scheint, wie es ihrer Familie finanziell geht. Wie sie gar nicht kindgerecht über die finanziellen Sorgen der Mutter spricht und im Kopf mitzurechnen scheint. Auch Leah bereitet das Kopfschmerzen, „ganz oft“ hat sie die, und wenn sie aus der Schule kommt, ist sie meistens sehr müde und muss sich erstmal ausruhen. Dafür kann sie nachts nicht schlafen. „Ich bleib manchmal auch dreieinhalb Stunden wach. Wie gestern. Dann geh ich ins Zimmer nebenan und klau mir was zu Malen. Dann mal ich.“

Die finanzielle Not wirkt sich also oft auch auf die Gesundheit der Kinder aus. Kinder aus schwierigen sozialen Lagen leiden häufiger unter Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten als Kinder aus gut situierten Familien. Laut UNICEF haben „chronische Krankheiten, Übergewicht und Verhaltensauffälligkeiten bei benachteiligten Kindern stark zugenommen“. Auch eine ausgewogene, gesunde Ernährung ist bei einer Essenspauschale von 2,57 Euro für unter 14-Jährige und 3,42 Euro für ältere Jugendliche, wie es das Hartz IV-Gesetz vorsieht, einfach nicht möglich.

Da wird es trotz aller Bemühungen für die Eltern schwierig, die Kinder vor den Auswirkungen der Armut zu schützen.

Mit zunehmendem Alter der Kinder wird die Situation ohnehin immer komplizierter. Die Bedürfnisse und Anforderungen der Betroffenen und damit auch das Bild, das die Familie nach außen hin aufrechterhalten muss, werden komplexer. Reicht bei Leah noch ein Regal voller Spielzeug und ein Einrad, um bei ihren Freundinnen nicht ganz außen vor zu sein, müssen Jugendliche da schon schwerere Geschütze auffahren. Coole Klamotten, MP3-Player, Handy, Playstation und genug Taschengeld, um abends auch mal auszugehen und so richtig einen drauf zu machen, sind da nur der Anfang in einer für die betroffenen Familien nicht zu bewältigenden Spirale. Noch dazu scheint es gerade für benachteiligte Jugendliche besonders wichtig zu sein, ihrer Umwelt durch Äußerlichkeiten zu symbolisieren, dass sie sich etwas leisten können. Ein teures Handy oder fette Turnschuhe sollen allen zeigen: Ich bin alles, aber nicht arm.

Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe Norbert Struck schätzt das Problem der Jugendarmut weitaus dramatischer ein als das der Kinderarmut. Jeder 4. Jugendliche zwischen 16 und 24 lebt demnach in Armut oder wird von Armut bedroht. Denn zu diesen Jugendlichen zählen auch viele, die am Anfang ihrer Ausbildung stehen, da das Gehalt oft unter dem Hartz-IV-Satz liegt.

Auch ältere Kinder sind von Armut betroffen

Hanna ist 18 und gerade im zweiten Lehrjahr. Sie ist in äußerst bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ihre Mutter ist alleinerziehend und die familiäre Situation schwierig. Hanna spricht eigentlich nicht gerne darüber, weil es sie traurig macht, wie sie sagt. Geschämt hat sie sich für ihre Familie allerdings nie, „Obwohl wir nie viel Geld hatten und ich deshalb viele Sachen nicht machen konnte. Zum Beispiel hätte ich früher immer sehr gerne Reitunterricht genommen. Aber dafür reichte das Geld nicht. Wahrscheinlich hätte es noch nicht mal für die Busfahrkarte zum Reitstall gereicht.“ Bei ihren Freundinnen hat das Geldproblem ihrer Familie allerdings kaum eine Rolle gespielt. „Da kam es halt drauf an, was man für Freunde hatte. Meine hatten alle nicht so viel Geld, bei denen war das genauso. Aber in vielen Cliquen wäre ich wahrscheinlich unten durch gewesen.“ Hanna wohnt noch bei ihrer Mutter, so kommen sie jetzt insgesamt finanziell ganz gut klar. Einen Teil ihres Ausbildungsgehalts kann sie als Taschengeld behalten, aber „es war ein Schock, als ich auf einmal Geld auf einem eigenen Konto hatte. Das kannte ich nicht und bin damit überhaupt nicht klar gekommen. Da hab ich am Anfang oft Schwachsinn gekauft, einfach irgendeinen Scheiß, den ich gar nicht brauchte. Das musste ich erstmal lernen, mit Geld umzugehen.“

Hanna hat ihren Weg aus der Armut mit ihrem Ausbildungsplatz gefunden. Und auch Leah hat Hoffnung und große Pläne: „Ich werd‘ entweder Tierärztin oder vielleicht auch ‘ne Lehrerin. Das Gute ist ja, ich bin halt sehr sehr gut in jedem Fach, sieben Einsen und sonst Zweien und das ist schon sehr, sehr gut.“ Ob sie ihre Pläne verwirklichen kann ist allerdings – so traurig das ist und so hart es klingen mag – fraglich. Denn Kinder, die in Armut und Unsicherheit aufwachsen, kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus diesem Teufelskreis auch im Erwachsenenalter nicht heraus.

Daher ist es besonders wichtig, sich diesem Problem anzunehmen, denn wenn Kinder und Jungendliche zunehmend nicht mehr frei und ungehindert aufwachsen können, wird unsere Gesellschaft insgesamt bald nicht mehr zukunftsfähig sein.

Kinder- und Jugendarmut heißt mehr, als wenig Geld zu haben. Sie äußert sich in vielen verschiedenen Lebensbereichen, beeinträchtigt die persönliche Entwicklung, Gesundheit und freie Lebensgestaltung der Betroffenen. Benachteiligte Kinder, vor allem solche aus Alleinerziehenden-Haushalten und aus Familien mit Migrationshintergrund, wachsen oft in großer Trostlosigkeit mit viel zu wenig Zuwendung, Fürsorge und Geborgenheit auf. Auf Grund dieser starken Unsicherheit wird den Kindern die Zukunft schon verbaut, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat.

Um die Armut zu bekämpfen, muss daher an vielen verschiedenen Stellen angesetzt werden. Da reicht es nicht, den Hartz IV-Regelsatz für Kinder wie zuletzt im Juli von 207 auf 208 Euro zu erhöhen, obwohl es natürlich hier wie so oft im Leben erst einmal ums Geld geht. Aufgabe der Politik ist es, umzuverteilen und mehr zu investieren, in Bildung, Beratung und Jugendarbeit einerseits und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit andererseits.

Damit Kinderarmut erfolgreich vorgebeugt und bekämpft werden kann. Und die ganzen Leahs und Hannas in unserem Land aufwachsen können, wie es überall eigentlich selbstverständlich sein sollte: nämlich als Kinder, gesund und sorgenfrei und fröhlich, in Familien, die die Kraft dafür haben, ihre Kinder zu unterstützen und zu fördern, ohne dabei jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen.


Dieser Artikel erschien 2008 in der Zeitschrift "Zukunft".

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1 Kommentar:

  1. Anonym03:58

    Solange wir alle möglichen Flüchtlinge hier aufnehmen, ohne dafür das notwendige Geld zu besitzen, wird es immer wieder solche Vorfälle geben. Di Sozialleistungen werden immer weniger, die Renten sinken weiterhin, Schulen verwahrlosen und werden von eigen wenigen Jugendlichen total verdreckt. Gewalt auf der Strasse. wer traut sich denn noch nachts in die Stadt? Es verkommt der gesamte Staat und unsere Politiker sind die Weltmesiter im Ausreden erfinden.

    Ich habe nur die eine Angst, dass wieder ein starker Mann kommt und das ganze beendet. Dann habe wir das, was keiner will. Unsere schlaffen Politiker werden Ihre Hände in Unschuld waschen und wir kleinen Bürger dürfen dann das ganze ausbaden. Ein schönder Staat!!

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