2012/07/01

Jugendamt traf tödliche Entscheidung

Erstellt 28.06.2012
An der Wohnungstür, hinter der sich die Familientragödie in Leipzig ereignet hat, 
haben Nachbarn Plüschtiere und Blumen aufgestellt. Foto: dapd
 
 
Nach dem Fund der Leichen eines zweijährigen Jungen und seiner drogensüchtigen Mutter sieht die Stadt Leipzig möglicherweise Fehler in der Arbeit eines Sozialarbeiters. Trotz mehrerer Warnsignale erkannte das Jugendamt keine Gefährdung des Kindes. Von Alexander Schierholz
 
 
 
Leipzig. 
Yvonne F. wollte  weg. Raus aus Leipzig, aus ihrem alten Leben. Neu anfangen, anderswo. Sie hätte es schaffen können, glaubt Stephan Frühauf (Name geändert), ihr ehemaliger Nachbar: „Ihr neuer Freund hat ihr gutgetan. Sie ist richtig aufgeblüht.“
Yvonne F. hätte es schaffen können. Das meint offenbar auch der Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des Leipziger Jugendamtes, der am 10. April dieses Jahres den letzten  Kontakt zu der 26-Jährigen und ihrem zweijährigen Sohn Marcel hat.  Beim Termin im Amt erzählt die junge Frau, über Jahre wegen ihrer Drogenabhängigkeit immer wieder in Behandlung, sie wolle wegziehen. Auch ihr neuer Lebensgefährte ist dabei.  Der Betreuer lässt sich noch dessen Handy-Nummer geben. Man weiß ja nie. Er notiert, Yvonne F. und ihr Kind seien in guter Verfassung, psychisch wie physisch. Hinweise auf Gefährdung des Kindeswohls, wie das im Amtsdeutsch heißt: keine.  Und damit kein Anlass für den ASD, den Kontakt weiter aufrechtzuerhalten.
Eine Entscheidung mit tödlichen Folgen:  In der Nacht zum 17. Juni finden Polizeibeamte die Leichen der 26-Jährigen und ihres Kindes in deren Wohnung   in  Leipzig-Gohlis. Die Todesursachen sind noch unklar, der Junge aber ist vermutlich verdurstet.
Der Sozialarbeiter, der die kleine Familie an jenem  Apriltag zum letzten Mal sieht, sei ein erfahrener Mann, sagt Siegfried Haller, er habe die Frau lange betreut. Von einem Fehler seines Mitarbeiters mag der Leiter des Leipziger Jugendamtes nicht sprechen: „Ich will niemanden vorverurteilen.“ Es werde geprüft, wie der Mann zu seiner Einschätzung kam, ob, so formuliert Haller es gewunden, „unsere Standards hier möglicherweise unterschritten wurden“.

Vertrag mit Tagesmutter gekündigt
Dabei hätte der ASD spätestens am 10. April alarmiert sein können: In dem Gespräch erklärt Yvonne F., sie habe den Vertrag mit einer Tagesmutter für die Betreuung ihres Kindes wieder gekündigt - entgegen einer Vereinbarung mit dem Amt. Schon in den Wochen davor wird der Sozialdienst mehrmals verständigt - von der Suchtberatung, der Arbeitsagentur. So bricht die Frau Ende 2011 den Kontakt zu ihrer Suchtberaterin und ihrer behandelnden Ärztin ab. Im Februar müssen  Polizei und Notarzt zur Wohnung der Hartz-IV-Empfängerin ausrücken. Was dort genau vorgefallen ist, ist nicht aktenkundig im Jugendamt. Doch das Ergebnis ist dasselbe wie in den anderen Fällen auch: Stets erkennen die Sozialarbeiter keine Anzeichen dafür, dass das Kind gefährdet sei. Dabei muss Yvonne F. im Januar, obwohl in ärztlicher Behandlung,  noch einmal rückfällig geworden sein - das belegt laut Jugendamt  ein positiver Drogentest.
Die Drogenkarriere der jungen Frau beginnt, als sie 16 ist. Sie macht mehrere Therapien. Sie schafft den Abschluss der 10. Klasse, beginnt eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Ob sie die Lehre abschließt, geht aus den städitschen Akten nicht hervor. Auch bei der Polizei ist Yvonne F. bekannt  - Diebstahl, Schwarzfahren.  2009 ziehen die Ermittler deshalb den ASD hinzu. Nachdem sie entbunden hat, absolviert die junge Mutter 2010 eine Therapie im Erzgebirge - erfolgreich. Alles scheint gut zu laufen. Bis sie Ende vergangenen Jahres den Kontakt zur Suchtberatung abbricht.
Hat Yvonne F. alle getäuscht? Auch Nachbarn beschreiben die 26-Jährige als aufmerksame Mutter, die sich liebevoll um ihr Kind gekümmert habe.  „Natürlich hat der Kleine mal geschrien“, sagt Stephan Frühauf. Doch wenn mit Marcel etwas nicht gestimmt hätte,  ihm und seiner Frau hätte das doch auffallen müssen. Schließlich haben sie manchmal aufgepasst auf den Jungen. Wenn die Mutter  einkaufen gegangen ist. Was Nachbar Frühauf erzählt, klingt nach Stabilität. Manchmal schnorrte sie  Zigaretten bei ihm. Manchmal hielten sie einen Schwatz im Treppenhaus.

Keine Antwort vom Amt
Trotzdem hat auch Stephan Frühauf sich irgendwann ans Jugendamt gewandt. Er hat lange überlegt vorher: Nehmen sie ihr dann das Kind weg? „Dann wäre sie wieder eine Stufe runtergefallen.“ Dennoch hat er schließlich einen Brief geschrieben, im April war das. Er hat vorgeschlagen, dass Yvonne F. einen Betreuer bekommen soll. Ihre Drogenkarriere war kein Geheimnis im Haus:  „Manchmal“, sagt er, „wenn sie auf Entzug war, hatte sie so einen Putzfimmel.“ Da hat er gedacht: Diese Frau braucht Hilfe. Eine Antwort bekommen hat er vom Amt nie, sagt er. 
Ein paar Wochen vor ihrem Tod hat Stephan Frühauf  Yvonne F. und ihren  Sohn zum letzten Mal gesehen. Die kleine Familie packte Spielzeug in ein Auto, erinnert sich der Nachbar. „Da dachten wir schon, bald ziehen sie wohl um.“
In der Nacht zum 17. Juni ist der Verwesungsgeruch aus der Wohnung so stark, dass Nachbarn die Polizei rufen.

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