2012/04/06

Kisslers Konter: Stoppt die Betreuungsindustrie in Deutschland!

Kinder sollen nicht erzogen, sondern betreut werden. Alte Menschen werden nicht umsorgt, sondern betreut: Deutschland ist längst zur betreuten Republik geworden. Dadurch wächst die Unmündigkeit und schwindet die Solidarität.

Man sollte viel öfter auf die Grammatik hören. Sie spricht die Wahrheit. Das Wort „betreuen“ zum Beispiel, heißt es, sei ein schwaches Verb. Das stimmt in jeder Hinsicht. Kaum ein schwächeres Wort ist denkbar. Dennoch entwickelt es sich zum Leitbegriff für eine ganze Gesellschaft. Die Bundesrepublik ist zur betreuten Republik geworden. Vollversorgung von der Wiege bis zur Bahre wird uns vorgegaukelt. Von dieser trügerischen Illusion, diesen gefährlichen Sirenenklängen sollten wir uns verabschieden, wenn uns die Republik am Herzen liegt.

Derzeit streitet die Berliner Koalition aus CDU, CSU und FDP über das im gemeinsamen Koalitionsvertrag fest vereinbarte Betreuungsgeld. Da es trotz aller Mängel ein Mittel wäre, die Wahlfreit der Eltern zu stärken, sollten sich die Koalitionäre nicht vom Geschrei der Wirtschaftsverbände und der FDP irritieren lassen. Deren Interessenlage ist durchsichtig: Je früher die Eltern ihr Neugeborenes aus dem Haus geben zur Fremdbetreuung, desto eher stehen Mutter oder Vater dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung. Kleine Kinder sind in dieser Perspektive volkswirtschaftliche Produktivitätsbremsen, ja Renditekiller. Dass die Erziehung im Elternhaus aber für das Kindswohl in aller Regel das Beste ist, da das wechselnde Fachpersonal in der Kita nur eine ungleich schwächere emotionale Bindung und Beheimatung aufbauen kann, steht außer Frage. Sowohl die Hirn- als auch die Bildungsforschung sind da eindeutig.

Der betreute Mensch ist der abhängige Mensch

Damit wären wir beim entscheidenden Punkt, den auch die Befürworter des Betreuungsgeldes leider nicht benennen. Wer Kinder – sei es zu Hause, sei es in der Tagesstätte – zu Objekten der Betreuung erklärt, hält sie nicht nur sprachlich in Unmündigkeit gefangen. Kinder haben ein Anrecht auf Liebe, Geborgenheit und Erziehung, nicht auf Betreuung. Der betreute Mensch ist der ohnmächtige, der abhängige Mensch. Dieser Zusammenhang gilt grundsätzlich wenn von Betreuungsangeboten die Rede ist. Dahinter verbirgt sich die Verzifferung der Welt, die Verwandlung von Menschen in Kostenstellen.

Alte oder kranke Menschen sehnen sich ebenfalls nach Zuwendung, vielleicht nach Pflege, nicht nach Betreuung. Sie wollen kein Fall sein und keine Nummer, sondern Mensch unter Menschen. Das betreute Wohnen ist ein Wohnen unter Aufsicht, am Gängelband von Staat und Gesundheitsindustrie. Auch das ganze weite Feld zwischen Kindheit und Greisentum zerfällt in viele kleine Lebensabschnittsbetreuungsmaßnahmen. Betreuer sollen sogenannten schwierigen Jugendlichen das Leben erklären, den Beruf weisen, die Ehe vor Augen führen. Karriere- und Beziehungscoaches sollen Erwachsenen zeigen, wie man Briefe schreibt, Leidenschaften verwaltet, Trennungen organisiert. Das Fernsehen ist voll von bebilderten Betreuungsangeboten in Messie-Wohnungen, bei der Brautschau, am Arbeitsplatz. Kein Ding ist simpel genug, als dass nicht doch ein Betreuer nötig wäre, um den nächsten Handgriff vorzuführen. Bis zum betreuten Atmen scheint es nur eine Frage der Zeit.

Ihr wollt nur unser Bestes, aber ihr kriegt es nicht

In der betreuten Republik Deutschland glänzt ein Spruch aus Spontitagen wie neu: Ihr wollt nur unser Bestes, aber ihr kriegt es nicht. Der staatliche Betreuungsapparat hat Tausend Arme und ernährt die Betreuungsbranche prächtig. Gewiss sind viele ihrer Protagonisten vom ehrlichen Bemühen erfüllt, Leid zu lindern oder Schicksalsschläge abzumildern. Die längst entgrenzte Betreuungsrhetorik jedoch und die Flut von Betreuungsangeboten, die jedes Ufer sprengt, sind alarmierend. Langfristig wird so das private Engagement geschwächt, die Eigeninitiative zum begründungspflichtigen Sonderfall und die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen zum Auslaufmodell.



von FOCUS-Online-Autor Alexander Kissler





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